Die Kuchendame Florentina
Trauerrede von Walter Müller
Lieber Reinhard, liebe Familie,
liebe Freundinnen und Weggefährten von Florentina Rinnerthaler
Auf diesem Friedhof sind annähernd 175.000 Menschen beerdigt worden – Berühmte und weniger Berühmte, Aristokraten und Obdachlose, Bürgermeister und Musikantinnen, Ordensschwestern und Sternenkinder. Und jeder, jede war ein eigener Kosmos, unverwechselbar. Früher haben Familien oft, neben den Namen, den Geburts- und Sterbedaten ihrer lieben Verstorbenen, auch deren Beruf in den Stein meißeln, in den Marmor gravieren oder aufs Holzkreuz schreiben lassen.
Da war und ist heute noch unter oder zwischen den Namen und den Jahreszahlen etwa zu lesen: „Gendarmeriekontrollinspektor in Ruhe“ … und in der übernächsten Zeile: „Gendarmeriebeamtensgattin“. Oder, in Goldbuchstaben, „Städtische Gartenverwaltungsgattin“ … „Polizeidirektions-Stellvertreters-Gattin“, „Musikdirektorswitwe“ und so weiter. Frauen wurden nicht selten als „Anhängsel“ ihrer Männer wahrgenommen. Die Grabtafeln auf dem Salzburger Kommunalfriedhof berichten von fernen Zeiten und vom Berufs- und Alltagsleben in dieser, unserer Stadt. In den letzten Jahren ist man, leider Gottes, wie ich meine, von der Nennung der Berufsbezeichnungen ziemlich abgekommen.
Und jetzt stehen wir um diesen Grabstein mit dem erstaunlichsten, für mich bewegendsten Eintrag aller Zeiten: „Florentina Rinnerthaler, Kuchendame im Café Tomaselli, 1968–2024“. So schmerzvoll es ist, dass eure geliebte Florentina diese Welt verlassen musste, viel zu früh, so zauberhaft ist es, diese Zeile zu lesen. „Kuchendame“, ein Ehrentitel, bleibende Erinnerung an einen wunderbaren Menschen und an einen, eigentlich erst vor wenigen Jahren ausgestorbenen Beruf. Die Kuchendamen vom Café Tomaselli waren berühmt auf der ganzen Welt. Oder das „Tomaselli“ wegen seiner Kuchendamen.
Viele Touristen aus aller Herren Länder ließen sich mit einer der Kuchendamen fotografieren und zeigten dann nach der Rückkehr in die Heimat stolz diese Bilder her: „Da bin ich im Café Tomaselli – und das ist eine Kuchendame! Die gibt es sonst nirgendwo auf der Welt!“ Sehr oft ist das Florentina gewesen. Sie war garantiert die meistfotografierte Kuchendame Salzburgs. Kellnerinnen gibt es viele, auch Kuchenfrauen oder -fräulein, welche die von Kaffeehausgästen bestellten Kuchen und Torten auf Tellern von einer Vitrine zum Tisch bringen. Aber: Kuchendame – das war etwas anderes, etwas Besonderes.
Die Damen (schwarzer Rock, schwarze Bluse, weiße Schürze) mussten, das Tablett mit den Mehlspeisen geschultert, von Tisch zu Tisch gehen und den Kaffeehausgästen ihre süßen Waren feilbieten. Tablett absetzen, Tortenstücke auf die Teller positionieren, kassieren, Tablett wieder auf die Schulter hieven, zum nächsten winkenden Gast, mitten durch das oft heftige Getümmel der Ankommenden und der das Café Verlassenden. Im „Tomaselli“ ist immer was los! Da waren bei jedem Gang etliche Kilo zu tragen! Weiß Gott anstrengende Arbeit, und dabei sollte man freundlich, charmant und fröhlich bleiben, den ganzen Tag lang.
Florentina war die Strahlendste von allen. Die bekannte bayrische Kabarettistin Monika Gruber schenkte ihr einmal ein von ihr verfasstes Buch mit der Widmung: „Für die beste, süßeste Dame im ‚Tomaselli’, Florentina!“ Und Elisabeth Aigner, Geschäftsführerin vom „Tomaselli“, schrieb in einem Trauermail an Reinhard: „Sie war für mich ein Sonnenschein, stets gut aufgelegt, immer freundlich, auch bei den Gästen wegen ihres offenen, positiven Wesens äußerst beliebt!“
Florentina – heiß geliebt und geschätzt von allen. Der Schauspieler Peter Lohmeyer, jahrelang der „Tod“ im Salzburger Festspiel-„Jedermann“, schaute im Sommer oft ins „Tomaselli“, erkundigte sich, ob Florentina Dienst habe, und wenn nicht, ging er wieder.
Mit dem populären TV-Koch Steffen Henssler hatte Florentina ihren Spaß und er mit ihr. Rolando Villazón, der immer gut gelaunte mexikanische Sänger und Mozartwochen-Intendant zeichnete Florentina an ihrem Ehrentag eine drollige Geburtstagsszene auf eine Serviette und ließ sich mit ihr ablichten. Genauso wie die österreichischen Bundespräsidenten Heinz Fischer und Alexander Van der Bellen. Ach, man musste sie einfach mögen, anders ging das gar nicht.
Florentina ging auf die Menschen zu, das war das Geheimnis ihrer Beliebtheit, schenkte ihnen ein Lächeln, egal ob berühmt oder nicht berühmt. Und leutscheu, schüchtern ist sie auch nicht gewesen.
Das Licht der Welt erblickt Florentina am 21. August 1968 in Brăila an der Donau, Rumänien. Der Tag ist in die Geschichte eingegangen, für euch, für uns wegen Florentinas Geburt. Für die restliche Welt, weil an diesem Tag Truppen des Warschauer Paktes unter dem Kommando der Sowjetunion in der Tschechoslowakei einmarschierten und mit ihren Panzern den „Prager Frühling“, diese kurze Zeitspanne der erhofften Liberalisierung und der sozialen Reformen, niederwalzten.
Rumänien hat sich damals von dieser Militäraktion distanziert. Deshalb haben viele „westliche“ Menschen euer Land, liebe Familie Mitan, bewundert und sind umso lieber zu euch auf Urlaub gefahren.
An diesem schicksalhaften Tag, dem 21. August 1968, ist also Florentina geboren worden, ein Stern an einem dunklen Himmel, ein kostbarer Schatz, ein Mensch, der euch in Rumänien und uns, etliche Jahre später, in Salzburg so viel Herzlichkeit geschenkt hat.
In ihrer Heimat hat bereits die Mutter als Kellnerin gearbeitet, in Konstanza. Dort erlernt auch Florentina diesen Beruf, der ihr eine Herzenssache wird. Ja, sie liebt ihr Kuchendamen-Dasein so sehr, dass sie später, in den schweren Jahren der Krankheit, nach Operationen, Chemos, Spitalsaufenthalten immer so schnell wie möglich ins Kuchendamen-Outfit schlüpft und ins Café Tomaselli eilt, zu den Kolleginnen, zu den Gästen, die sie sehnsüchtig erwarten und freudig begrüßen. „Ist die Florentina da?“ Ohne sie war das für viele Menschen nur ein halbes Kaffeehausvergnügen.
Die Liebe hat Florentina nach Salzburg gebracht, per Taxi, könnte man sagen. Jedenfalls war es ein Salzburger Taxifahrer, der sich in Konstanza Hals über Kopf in diese bildhübsche junge Frau mit den schwarzen Haaren und dem bezaubernden Lächeln verliebt hat. Die beiden sind ein Paar geworden, haben geheiratet und waren einige Jahre lang in Salzburg glücklich.
Florentina hat in Salzburg in kurzer Zeit Deutsch gelernt und hat dabei unsere Sprache um ein paar originelle Wortschöpfungen bereichert. „Hanselnusse“ statt Haselnüsse beispielsweise. Oder „Gänselhaut“ statt Gänsehaut. Und dass die Kaffeehausgäste männlicher Art im „Tomaselli“ dauernd mit ihr „flöten“ würden … eigentlich: flirten. „Krampapier“ statt Papierkram.
Arbeiten, arbeiten, arbeiten. Florentina, die in ihrer Heimat neben der Kellnerinnenausbildung auch die höhere Schule samt Matura absolviert hat, begann ihre Salzburger Berufslaufbahn im Flughafenrestaurant, wechselte bald ins „Coco Lezzone“ (damals ein italienisches, heute ein indisches Restaurant am Franz-Josefkai) und setzte sie in der Pizzeria „La Stella“ im „Sternbräu“-Innenhof fort. Der entscheidende Ort für ihr künftiges Glück.
Die Liebe, ihr wisst das, hat ihre eigenen Regeln. Die Liebe kommt, manchmal geht sie auch wieder und eine neue Liebe nimmt ihren Platz ein. Florentinas Ehe hatte ihr Ablaufdatum erreicht; jetzt war sie geschieden, wie auch dieser Mann geschieden war, der manchmal das „La Stella“ besuchte. Ein gewisser Dr. Reinhard Rinnerthaler.
Lizzie, seine geschiedenen Frau (gut, wenn man sich auch „danach“ noch gut versteht), hatte gesagt, nachdem die beiden oft und gern in diese Pizzeria essen gingen: „Die Kellnerin dort ist sehr nett!“ Der Beginn einer schönen Freundschaft. Er, der Schriftsteller, und sie, die Kellnerin, trafen sich Monate später – und ohne Lizzie. Eines Tages meinte Reinhard Florentina gegenüber, mehr aus einer Laune als aus ernstem Kalkül heraus: „Wir sind beide geschieden, eigentlich könnten wir ja noch einmal heiraten!“
Kurzum: Sie gehen zum Standesamt und bestellen das Aufgebot, obwohl sie einander in Wahrheit so gut wie nicht kannten, nicht viel über einander wussten. Bis zum festgelegten Hochzeitstermin (um Florentinas Geburtstag herum) wäre ja noch ein paar Monate Zeit, die Sache wieder abzublasen.
Aus der Laune wird Realität. Am 17. August 2013 treten Florentina und Reinhard vor den Standesbeamten (was für eine hinreißende Braut sie war!) und geben einander das Jawort. Willst du, Florentina … und dann folgt der Satz, der Reinhard tief berührt: „Ja, bis in alle Ewigkeit!“ Gut 10 Jahre später, als die beiden endgültig voneinander Abschied nehmen müssen, schenkt sie ihm diesen bleibenden Satz: „Ich liebe dich bis in alle Ewigkeit!“ Es gibt keine schöneren letzten Worte!
In einem gewissen Alter muss man nicht mehr rasend verliebt und maßlos romantisch sein. Da ist es wichtig, dass man füreinander da ist, dass man einander gut tut. Ihr habt einander gut getan. Wichtig, dass man die Interessen teilt. Reisen! Florentina hat die gemeinsamen Auslands- und Urlaubsaufenthalte mit Zettel im Inneren einer Kastentüre bewertet. Wo es am Schönsten, wo es weniger schön gewesen ist. Oben: Nizza, Rom, Hamburg. Ganz unten auf der Liste: Marrakesch, Bologna, Berlin.
Das Lachen und das Weinen, die wohnen Tür an Tür. Glück und Schmerz, Zuversicht und Verzweiflung. Die guten Jahre nach der Hochzeit, die guten Jahre als Kuchendame im „Tomaselli“ – und zugleich die schweren Jahre der Krankheit. Alles gleichzeitig.
„Morbus Wegener“, im Jahr 2014 eine Diagnose, eine Krankheitsbezeichnung, eine Katastrophe, ein Schicksalsschlag, eine Gemeinheit. Wieso grad sie?! „Es ist wie es ist!“ Florentinas Lebensmotto. „Morbus Wegener“ ist langwierig, die Medikamente fördern Krebs. Den bekam Florentina zweimal. Operationen folgten, viele Chemos und Bestrahlungen. Und dann Leukämie.
Es beginnt das Warten auf die dringend benötigte Stammzellenspende.
Bei den Stammzellenspendern ist das so: 30 Millionen potentielle Lebensretter sind weltweit in den Datenbanken registriert. Davon sind keine zwei Dutzend für eine Transplantation für Florentina geeignet. Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen, das bange Warten. Florentinas Zuversicht bleibt unzerstörbar. Vor eineinhalb Jahren offenbart sie einer Journalistin: „Ich träume, dass ich gesund werde und ich verliere die Hoffnung nicht!“
2023: Ein zu 100 % passender Stammzellenspender wird endlich gefunden – ein „genetischer Zwilling“. Die Freude ist riesengroß. Alles wird für eine Transplantation vorbereitet, doch dann macht der Spender einen Rückzieher. Der Sohn von Florentinas Halbbruder ist zwar nur zu 50 % als Spender geeignet, aber die Zeit drängt und die Transplantation ist erfolgreich. Die Hoffnung wird zur Überzeugung – die fantastischen elf Wochen heuer, als hätte Florentina tatsächlich das Unmögliche geschafft. Zu Fuß hinauf in die Wohnung im 6. Stock, kein Problem mehr! Urlaubspläne für später, sobald die Ärzte endgültig grünes Licht geben. Und dann geht alles so bitterlich schnell.
Kuchendame. Florentinas Traumberuf! Dass es keine Kuchendamen mehr gibt, ist der Gesundheitsbehörde zuzuschreiben, die (aus „Hygienegründen“) das Tragen der Tortentabletts durch Kunststoffabdeckungen erschwerte. Die mit Kuchen und Tellern gefüllten Tabletts wogen danach fast 10 Kilo. Seit Corona bleiben die Mehlspeisen in der Vitrine. Aus den Kuchendamen sind Kuchenfrauen geworden, wie es sie in jedem Kaffeehaus gibt.
Ihr habt, hast Du, Reinhard, mir erzählt, nie gestritten. Ihr seid euch gegenseitig dankbar gewesen, dass jeder so sein durfte, wie er war.
Drei Jahrzehnte hat Florentina in unserer Stadt gelebt und die Menschen mit ihrer Fröhlichkeit und ihrem Charme verzaubert. „Ist die Florentina da? Wenn nicht, geh ich wieder!“ Gemocht haben sie alle, ihre Familie aus Rumänien natürlich, ihre Freundinnen und Weggefährten hier bei uns. Paola, Florentinas beste Freundin aus der Zeit von „La Stella“ ist heute extra aus Apulien zum Abschiednehmen angereist und fliegt gleich wieder zurück zu ihren Kindern.
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So hart und kompliziert das Leben mit der Krankheit gewesen ist, so furchtlos ist Florentina damit umgegangen. „Istaso!“ „Es ist wie es ist!“
„Kuchendame im Café Tomaselli“. Die Inschrift auf diesem Grabstein wird noch so manchen Friedhofgänger, der zufällig daran vorbeikommt, zum Staunen und zum Schmunzeln bringen. Von Dir, Reinhard, wünsche ich mir in einem Deiner künftigen Bücher eine Geschichte über einen Kuchendamens-Gatten … oder wie auch immer das grammatikalisch richtig heißen mag. Und noch viele Erinnerungen an diesen einzigartigen Menschen Florentina Rinnerthaler.
Walter Müller, am 10. Juni 2024
Mehr über Walter Müller, den renommierter Salzburger Schriftsteller, erfahren Sie hier.
Der Spruch hier am Grab ist der Titel eines der vielen Bücher von Walter Müller:
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